Im Juni hatte ich von einer möglichen Entdeckung eines neuen leichten Teilchens in einem ungarischen Kernphysik-Experiment geschrieben, und ein paar Tage danach von Zweifeln daran berichtet, da einige Details zur Historie der Arbeitsgruppe ans Tageslicht kamen, die etwas nachdenklich machen. Als diese Meldung von einer möglichen Entdeckung im Juni erstmals durch die Wissenschaftspresse geisterte, war das experimentelle Ergebnis der Ungarn bereits über ein Jahr alt und war weitestgehend unbemerkt geblieben. Das änderte sich erst, als einige amerikanische Theoretiker es aufgriffen und ernsthafte Überlegungen anstellten, wie man es theoretisch erklären könnte, sofern der beobachtete Effekt echt ist. Nachdem diese Veröffentlichung eine Weile von sich reden machte, wurde es wieder still um die Angelegenheit, da die experimentelle Grundlage einfach zu ungewiss schien, um den neue-Physik-Alarm längerfristig schallen zu lassen.
In den letzten Tagen ist das ungarische X-Boson nun erneut in diversen Wissenschaftsnachrichten und Podcasts aufgetaucht.
Es gibt mitnichten neue experimentelle Ergebnisse – es gab lediglich ein neues Theoriepapier derselben Autoren, in dem die Physik der betroffenen Kernzerfälle und mögliche theoretische Erklärungen in mehr Detail ausgearbeitet werden.
Eine Illustration, wie angeregte Beryllium-Kerne durch Protonenbeschuss erzeugt werden können und dann bei der Rückkehr in ihren unangeregten Zustand das hypothetische X-Boson abstrahlen würden.
Wirkliche neue, unabhängige Hinweise darauf, ob das X-Boson mit einer Masse von ca. 17 MeV (also nur ca. einem 60tel einer Protonmasse) echt ist, oder nur eine Fehlmessung, sind also nicht wirklich eingegangen. Dennoch legen Jonathan Feng und Kollegen noch einmal nach und bekräftigen ihre Rechtfertigung, die Messung zumindest zum Zweck ihrer Analyse ernst zu nehmen:
The 6.8σ anomaly in 8Be cannot be plausibly explained as a statistical fluctuation, and the fit to a new particle interpretation has a χ^2 /dof of 1.07. If the observed bump has a nuclear physics or experimental explanation, the near-perfect fit of the θ and m_ee distributions to the new particle interpretation is a remarkable coincidence.
Die Autoren stellen also zunächst fest, dass die statistische Signifikanz des Effekts so hoch ist, dass eine Herkunft aus einer rein zufälligen Fluktuation ausgeschlossen erscheint – Fluktuationen mit 6.8 Standardabweichungen sind mit ca. 1:100 Milliarden tatsächlich so selten, dass es gerechtfertigt erscheint, diese Erklärung zu verwerfen. Also würde es sich entweder um einen echten Effekt handeln, oder um eine anderweitige, systematische Fehlmessung oder unzureichend verstandene Kernphysik, die einen Effekt vortäuscht. Gegen letztere Bedenken haben die Autoren einen Einwand: Ihre Erklärung mit einem neuen Boson passe sehr gut auf die gemessenen Daten – besser, als es von irgendeiner Fehlmessung oder kernphysikalischen Effekten zu erwarten wäre.
Die übrige Teilchenphysik-Community, die ja derzeit dafür bekannt ist, sich mangels harter Hinweise auf neue Phänomene auch auf ungewisse Ergebnisse wie das mutmaßliche 750GeV-Boson zu stürzen und hunderte Papiere zu veröffentlichen, hält sich hier fast komplett zurück. Das erste Papier von Feng et al. wurde erst von 7 anderen Arbeiten zitiert, von den amerikanischen Kollegen noch garnicht. Skepsis ist also weiterhin geboten, auch wenn träumen natürlich immer erlaubt ist.