Das Alptraum-Szenario

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Als der Large Hadron Collider am CERN im Jahr 2009 in Betrieb ging, wusste man natürlich nicht, was man mit der Maschine entdecken würde. Wenn das schon vorher klar gewesen wäre, hätte man sich den Aufwand schließlich sparen können! Aber – man hatte diese Investition doch nicht ganz ohne Absicherung gemacht, denn es gab das sogenannte No-Lose-Theorem, ein Argument, weshalb man sich sehr sicher sein konnte, dass der LHC nicht ohne Entdeckung bleiben würde. Es lautete in etwa so:

Die Wechselwirkungen aller bekannten Elementarteilchen werden vom sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik hervorragend beschrieben. Diese Theorie enthält aber noch ein weiteres Teilchen, das sogenannte Higgs-Boson, das bisher nicht entdeckt wurde. Die Theorie ist ohne dieses Higgs-Boson nicht mathematisch konsistent, und wenn man das Higgs-Boson als zu schwer annimmt, bricht sie ebenfalls zusammen. Es gab also zwei Möglichkeiten:

  1. So ein Higgs-Boson existiert und ist leicht genug, um am LHC entdeckt zu werden. Dann macht der LHC diese Entdeckung. So scheint es gelaufen zu sein.
  2. So ein Higgs-Boson existiert nicht.  Das Standardmodell ohne Higgs-Boson (oder mit einem zu schweren Higgs-Boson) ist aber nicht mathematisch konsistent. Wäre die Natur so gestrickt, würden also zwingend neue Effekte auftreten, die nicht vom Standardmodell beschrieben werden, und das wäre dann die Entdeckung.

Kurz gesagt, man war sich sicher, dass man entweder ein Higgs-Boson entdecken würde oder etwas anderes, was seinen Platz einnimmt.

0611042_01-a4-at-140001Das CMS-Experiment (Quelle: CERN)

Das hat offenbar auch geklappt! Man hat 2012 etwas entdeckt, was dem vom Standardmodell vorhergesagten Higgs-Teilchen sehr, sehr ähnlich sieht. Das war ein Riesenerfolg für die LHC-Experimente ATLAS und CMS, und eine fast schon unheimliche Bestätigung einer 45 Jahre alten theoretischen Hypothese – aber gleichzeitig möglicherweise eine Katastrophe. Denn wenn man eine Theorie (das Standardmodell der Teilchenphysik) hat, deren Mathematik prinzipiell jenseits dessen gültig ist, was menschengemachte Beschleuniger je erreichen können, dann hat man kein No-Lose-Theorem mehr, keinen harten Grund, warum im Einzugsbereich des LHC oder einer Nachfolgemaschine neue Teilchen und Kräfte auf ihre Entdeckung warten sollten. Man ist quasi im Blindflug. Es könnte sein, dass die durch menschengemachte Beschleuniger und Detektoren beobachtbare Welt aus folgendem besteht: Die bereits bekannten Teilchen des Standardmodells mit Higgs-Boson, Ende. Das wäre das Alptraum-Szenario, denn alle machbaren Entdeckungen wären schon gemacht.

Aus diesem Grund war die mögliche Entdeckung eines neuen, bisher völlig unbekannten schweren Teilchens auf eine so große, im Vergleich zur Ungewissheit der Daten gewaltige Resonanz unter Physikern und der Öffentlichkeit gestoßen  – das wäre das Zeichen der Natur gewesen, dass es weitergeht in der Teilchenphysik. Diese Blase ist jetzt wohl geplatzt.

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Der Bullet Cluster (Quelle: NASA)

Natürlich gibt es viele offene Fragen in der Teilchenphysik und Kosmologie: Woraus besteht die Dunkle Materie? Warum bestehen wir aus Materie, während die Antimaterie verschwunden ist? Leider garantiert uns nichts und niemand, dass diese Phänomene durch Labormessungen zu durchdringen sind. Im schlimmsten Fall besteht die Dunkle Materie aus Teilchen, die so schwach wechselwirken oder so schwer sind, dass sie auch in fernerer Zukunft nicht detektiert und vermessen werden können. Möglicherweise trennen uns viele Größenordnungen der Energie von der Antwort auf die Materie-Antimaterie-Asymmetrie. Hier gilt ab sofort das Prinzip Hoffnung: Hoffentlich ist die Natur so nett, so aufgebaut zu sein, dass wir durch teilchenphysikalische Experimente noch mehr über ihre grundlegende Funktionsweise lernen können.

Die Entdeckung neuer Teilchen ist aber nicht das Einzige, worauf man jetzt hoffen kann. Der Schlüssel zu ganz neuen physikalischen Welten könnte auch im Detail liegen: Eine Zerfallsmöglichkeit des Higgs-Bosons, die ein wenig über der theoretischen Erwartung liegt, eine beobachtete Zerfallskonstellation, die laut Standardmodell garnicht auftreten sollte. Wenn man eine in sich mathematisch geschlossene Theorie wie das Standardmodell hat, die Vorhersagen für alle Wechselwirkungen der bekannten Teilchen incl. Higgs macht, dann würde jegliche beobachtete Abweichung die Karten komplett neu mischen. Alles wäre wieder offen.

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2 Gedanken zu “Das Alptraum-Szenario

  1. Pingback: X-Boson reloaded – Quanten.Feld.Salat

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