Update: Inzwischen wurden größere Zweifel an dieser Messung geäußert. Mehr dazu hier.
Es müssen nicht immer die ganz großen Kanonen sein Der Large Hadron Collider (LHC) am CERN dominiert die öffentliche Wahrnehmung der physikalischen Grundlagenforschung – eine knapp 30 Kilometer lange, beeindruckende unterirdische Maschine, die Teilchen mit bisher im Labor unerreichten Energien aufeinander schießt – das macht einfach was her.
Durch diese hohle Gasse müssen sie kommen, die Protonen – ein kleiner Abschnitt des 27km langen LHC-Beschleunigers (Quelle: CERN)
Je größer die Energie, die ein Teilchenbeschleuniger liefert, umso schwerere Teilchen kann er produzieren, denn nach Einsteins Formel ist die Energie, die in einem Teilchen steckt, proportional zu seiner Masse. Je stärker die neue Maschine ist, in umso höhere Massenbereiche kann man vordringen, um dort bisher unbekannte Teilchen und Kräfte zu entdecken.
Das 2012 entdeckte Higgs-Boson beispielsweise ist so schwer, dass die Vorgängermaschine des LHC am CERN, der Beschleuniger LEP, schlicht nicht genug Saft liefern konnte, um es zu produzieren. Auch der Konkurrenz in den USA, dem Tevatron am Fermilab, ging die energetische Puste aus, bevor es genug Higgse erzeugen konnte, um die Entdeckung klarzumachen. Der LHC konnte mit der vierfachen Energie des Tevatrons und einer höheren Kollisionsrate den Preis fast auf Anhieb nach Hause holen, als er denn endlich zuverlässig lief.
Dabei vergisst man leicht, dass die Entdeckung neuer, bisher unbekannter Teilchen nicht nur an dieser sogenannten „Hochenergie-Grenze“ in riesenhaften Beschleunigern passieren kann. Denn neue Teilchen können sich vor den bisherigen Experimenten nicht nur durch ihre besonders hohe Masse versteckt haben – möglicherweise wurden sie noch nicht entdeckt, weil sie nur schwach mit Materie wechselwirken, nur in ganz bestimmten Teilchenreaktionen auftauchen oder anderweitig schwer zu detektieren sind. Hier gibt es viele Lücken, die von kleineren spezialisierten Experimenten geschlossen werden müssen.
Eine Anomalie Eine unerwartete Beobachtung dieser Art – mit einem knappen 7000stel der Masse des Higgs fernab von den riesigen Energien des LHC entfernt – wurde 2015 an einem ungarischen Experiment gemacht. Darauf wurde ich dankenswerterweise durch Florian Freistetter aufmerksam, der gerade auf Astrodictium darüber gebloggt hat. Die Teilchenphysiker Jonathan Feng et al. haben sich jetzt genauer angesehen, was dahinter stecken könnte, und ich will hier kurz versuchen, die wichtigsten Punkte zusammenzufassen. Wenn hinter der Beobachtung wirklich ein solches neues Teilchen steckt, würde das unser physikalisches Weltbild revolutionieren.
Das Experiment – anregend energetisch Was wurde hier überhaupt gemacht? Wie Atome können auch ihre Atomkerne für sich genommen zeitweise in sogenannte angeregte Zustände gebracht werden – man kann sich das grob so vorstellen, dass die Bestandteile des Kerns für kurze Zeit etwas schneller und/oder weiter voneinander getrennt unterwegs sind. Die darin steckende überschüssige Energie wird üblicherweise sehr schnell wieder abgegeben, indem der Kern irgendwelche Teilchen abstrahlt – im einfachsten Fall einfach ein Lichtquant – worauf er sich wieder in seinen unaufgeregten Zustand begibt.
Die Forscher in Debrecen haben in ihrem Experiment Lithium-Kerne mit Protonen mit genau der passenden Energie beschossen, um angeregte Beryllium-Kerne herzustellen (*), deren Rückkehr in den Grundzustand sie dann beobachten konnten. Besonderes Interesse galt dabei nicht der einfachen Abstrahlung eines Lichtquants, sondern dem spannenden Fall, dass die Natur die überschüssige Energie direkt in die Produktion eines Elektrons und eines Anti-Elektron (Positron) fließen lässt. Das passiert nicht gerade super-häufig, sondern nur etwa 55 mal pro einer Milliarde erzeugter Kerne, aber das reichte aus, um Beobachtungen zu machen. Die Forscher verglichen die beobachtete Häufigkeit dieses Vorgangs und die Winkel der Elektronen und Positronen mit Simulationen, und stellten fest, dass hier Abweichungen auftraten, die nach der Abschätzung der Forscher die beeindruckende statistische Signifikanz von 6.8 Standardabweichungen ergaben – das würde in der Teilchenphysik normalerweise sofort als Entdeckung gewertet werden, da die Wahrscheinlichkeit, dass solch ein Ausreißer auftritt, ohne dass neue physikalische Phänomene im Spiel sind, nur bei winzigen 5:1 Billion liegt. Hier muss man aber vorsichtig sein: wenn man die Unsicherheiten in der Messung oder der theoretischen Simulation nur ein wenig unterschätzt, überschätzt man diesen sogenannten p-Wert extrem, und gerade in der Kernphysik ist es furchtbar schwierig, die Stärke alle Phänomene der starken Wechselwirkung genau abzuschätzen. Hier bin ich allerdings kein Experte und kann mich nur dem vorsichtigen Optimismus von Feng et. al. anschließen.
Ein Satz mit X? Ein neues Teilchen – nennen wir es mal „X“ – könnte diese Anomalie in den Daten erklären! Die überschüssige Energie würde dann, wenn der Kern sich „abregt“, nicht direkt in ein Lichtquant oder ein Elektron-Positron-Paar fließen, sondern ab und zu in dieses neue Teilchen, das dann im Anschluss in ein Elektron-Positron-Paar zerfällt. Die Anwesenheit einer solchen zusätzlichen Zerfallsmöglichkeit würde einen Einfluss auf die Häufigkeit und Winkel der Elektronen und Positronen haben, der die abweichende Beobachtung erklären könnte.
Die kurzzeitige Erzeugung und Zerfall eines hypothetischen X-Teilchens bei der Abregung eines Beryllium-Kerns (künstlerische Darstellung)
Modellbau für Fortgeschrittene Um zu verstehen, wie plausibel diese Erklärung ist, muss man versuchen, ein mathematisch konsistentes, möglichst einfaches theoretisches Modell für ein solches neues Teilchen aufzustellen, das die neue Beobachtung quantitativ erklärt, alle bisher von der Teilchenphysik gemachten erfolgreichen quantitativen Vorhersagen intakt lässt und mit allen bisher gemachten Beobachtungen in Einklang ist. Das ist nicht leicht unter einen Hut zu bringen – das ist es, was die hohe Kunst des „theoretischen Modellbaus“ ausmacht und seriöse wissenschaftliche Spekulation von den vielen Crackpot-„Theorien“ unterscheidet, die so im Netz herumschwirren.
Der Teufel steckt im Detail So mussten Feng et. al. dann auch allerlei zusätzliche Experimente und theoretische Zusammenhänge berücksichtigen, um ihr Minimalmodell aufzustellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Schreibt man einfach ein neues X-Teilchen in das Standardmodell der Teilchenphysik hinein, das den anomalen Berylliumzerfall erklärt, wird dasselbe Teilchen im Allgemeinen auch den Zerfall von ganz anderen Teilchen, den sogenannten Pionen, beeinflussen. Ein älteres Experiment am CERN mit dem poetischen Namen NA48/2 hat aber genau solche Zerfälle von 2003-2004 untersucht und dabei kein solches X-Teilchen beobachtet. Also mussten Feng et al. ihr Modell etwas anpassen, um die damalige nicht-Beobachtung zu erklären. Das konnte erreicht werden, indem die Wechselwirkung des X-Teilchens mit Protonen als sehr schwach angenommen wird – eine Eigenschaft, die sie „Protophobisch“ (nicht zu verwechseln mit Probiotischem Joghurt) getauft haben. Schließlich konnten sie mit einem nicht zu barocken Modell aufwarten, das all diese Bedingungen erfüllt.
Welche Eigenschaften hätte das X-Teilchen? Das X-Teilchen, das sich Feng et. al. überlegt haben, ist wie das altbekannte Photon (also gewöhnliche Lichtquanten) ein Boson mit dem Spin s=1. Hier hören allerdings die Gemeinsamkeiten auf: seine Wechselwirkungen mit unserer herkömmlichen Materie sind viel schwächer als die des Photons, sind nicht proportional zur elektrischen Ladung, und das X-Boson hat eine Masse von etwa 17 MeV (das ist etwa 33 Mal so schwer wie ein Elektron), während das herkömmliche Photon offenbar keine Masse besitzt. Dennoch würde dieses Teilchen (wie die Gluonen, Photonen, W- und Z-Bosonen) zusätzlich zur 1. Gravitation, 2. dem Elektromagnetismus, 3. der schwachen Kernkraft und 4. der starken Kernkraft eine neue fünfte Grundkraft der Natur vermitteln (**).
Während neue, den Photonen ähnliche Teilchen als ein Kandidat für die Dunkle Materie gehandelt werden („Dunkle Photonen“, siehe dazu meinen kommenden Beitrag in der Sterne und Weltraum 08/2016), kann dieses X-Teilchen leider nicht für diese zusätzliche dunkle Masse im Universum verantwortlich sein – es muss ja per Konstruktion sofort in Elektronen und Positronen zerfallen, um die Beobachtung der Ungarn zu erklären, während die hypothetischen Teilchen der Dunklen Materie eine mittlere Lebensdauer besitzen müssen, die weit über dem Alter des Universums liegt. Das ist schade, denn besonders gute theoretische Hypothesen erklären nicht nur das eine Phänomen, für das sie primär erfunden wurden, sondern am besten gleich noch weitere. Doch auch hier lassen sich Feng und Kollegen nicht lumpen – ihr neues X-Teilchen könnte sowohl eine Abweichung im Magnetfeld der Myonen erklären, die Teilchenphysikerinnen seit längerem Rätsel aufgibt (dazu auch mehr in meinem Springer Essential „Neue Physik“), sowie eine weitere stehende Anomalie im Zerfall der neutralen Pionen.
Und wie bekommen wir jetzt Klarheit? Eine solche theoretische Hypothese über die Existenz eines neuen Teilchens sollte natürlich immer durch andere, unabhängige Beobachtungen zu bestätigen sein. Das ist auch hier der Fall, und Feng et. al. haben gleich mehrere Experimente im Blick, die das leisten könnten.
Nevertheless there are myriad opportunities to test
and confirm this explanation, including re-analysis of old
data sets, ongoing experiments, and many planned and
future experiments, including DarkLight [35], HPS [36],
LHCb [37], MESA [38], Mu3e [39], VEPP-3 [40], and pos-
sibly also SeaQuest [41] and SHiP [42].
Wenn nicht doch noch eine unerwartete Quelle von Unsicherheiten in der Messung oder der theoretischen Simulation der Forscher aus Debrecen und Amsterdam entdeckt wird, werden wir die einschlägigen Ergebnisse dieser Experimente gespannt erwarten. Vielleicht hat die erste große Revolution der Grundlagenphysik des 21. Jahrhunderts ja nicht mit viel Tam-Tam am LHC ihren Anfang genommen, sondern zunächst fast unbemerkt in einem Labor in Ungarn.
(*) genau genommen das Isotop
(**) So ganz verstehe ich diese oft verwendete Zählung allerdings nicht – da auch das Higgs-Boson eine kurzreichweitige Kraft zwischen massiven Teilchen vermittelt, würde es sich hier eigentlich schon um die sechste Kraft handeln.
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